Wer kennt nicht folgendes Szenario: Herr Mayer kann sich nicht aufrichten, sein Kreuz tut weh. Jede Drehung schmerzt, nicht umdrehen nicht bücken. Am meisten schmerzt jedoch der Stillstand. Er ist müde und vom Schmerz ausgelaugt.
Andrea Moser
Ergotherapeutin
Schmerzen sind individuell und kompliziert in Worte zu fassen.
Langanhaltende Schmerzperioden hinterlassen Spuren in der
Lebensgeschichte, prägen die Persönlichkeit und können zur Entstehung
eines Schmerzgedächtnisses führen. Dabei baut sich ein Verstärker, wie
bei einer E-Gitarre, in der zentralen Schmerz-Verarbeitung ein. Nichts
geht mehr, alles tut weh.
Ergotherapie klärt auf
Herr Mayer lernt seinen Schmerzmechanismus verstehen, man spricht von Schmerzedukation. Um den Schmerz greifbarer zu machen wird er in Unterklassen unterteilt, die zeitgleich bei jedem Schmerzgeschehen auftreten.
Der biologische Schmerz zeigt Verletzungen an. Er warnt vor Gefahr. Berührt man beispielsweise eine heiße Herdplatte, entsteht ein Schmerz, die Hand wird weggezogen. Akut helfen Schmerzmittel, Massagen, Manuelle Therapie oder gezielte Bewegungsübungen. Berühren und sanftes Bewegen heilen und entspannen. Unser Körper ist stark, oft braucht es nur Geduld.
Der zentrale Schmerz entsteht durch komplexe Verarbeitungsmechanismen im Gehirn. Ein Reiz wird im Gehirn an verschiedenen Stellen geprüft und beurteilt. Ein Nadelstich tut bei einer Impfung mehr weh als eine lang ersehnte Tätowierung. Sorgen und Ängste fungieren als Schmerzverstärker, positive Emotionen können hingegen eine Schmerzstimulation verblassen lassen. Zentrale Schmerzen sind knifflig, denn unsere Gedanken können Schmerztore öffnen oder schließen. Um darauf einzugehen benötigt der*die Ergotherapeut*in Zeit und ein gutes Zuhörvermögen. Ängste, Vorerfahrungen und Sorgen gilt es zu erforschen und widrige Glaubensgrundsätze zu korrigieren. Das Bild einer Röntgenaufnahme oder ein unbedachter Satz können sich verselbstständigen. Geisterphrasen, wie die von der herausspringenden Bandscheibe oder des drückenden Geschwürs, öffnen eine gedankliche Einbahnstraße. Das Bild im Kopf muss neugestaltet werden.
Der dritte Schmerztyp geht von verletzten Nerven wie bei Amputationen oder Bandscheibenvorfällen aus. Betroffene beschreiben diesen mit kribbeln, brennen oder stechen.
Ergotherapie analysiert
Gemeinsam mit Herrn Mayer wird dem Schmerz auf dem Zahn gefühlt: Wo tut es weh, wie oft und wie lange? Besteht der Schmerz in Ruhe oder bei Belastung? Fühlt er sich ziehend, brennend oder klopfend an? Was verstärkt ihn? Gibt es eine strukturelle Ursache wie eine Entzündung oder Überlastung? Ist ein Muskel verhärtet oder verspannt? Weist ein Gelenk eine Bewegungseinschränkung auf? Ist ein Nerv überempfindlich und sensibilisiert? Sind Muskelgruppen unkoordiniert oder schwach?
Der Schmerz wird behandelt
Mittels sanften Mobilisationsgriffen und Bindegewebstechniken wird der schmerzende Körperteil behandelt. Kleine geführte Bewegungen entspannen, der Muskeltonus sinkt. Gezielte Berührungen, wie etwa mit weichen Bürsten setzten einen Reiz, den das Gehirn positiv beurteilt. Der betroffene Körperteil kann erstmals wieder angenehm und entspannt wahrgenommen werden. Schmerzedukative Worte begleiten die Therapie: Unser Körper ist stark und darauf programmiert Krisen zu überwinden. Jeder Schmerz verläuft manchmal in Berg- und Talfahrt, ist jedoch beherrschbar.
Ergotherapie gibt dem Schmerz einen Raum
Herr Mayer erzählt seine Schmerzgeschichte, der*die Therapeut*in hört zu und nimmt wahr. Er kann mit niemanden mehr über seinen Schmerz sprechen. Einerseits will er seine Angehörigen nicht belasten und andererseits sind sie bereits überlastet und können nichts mehr davon hören.
Ergotherapie setzt im Alltag an
Der Zugang der Ergotherapie zur Schmerztherapie ist der Alltag. Es gilt die Negativspirale, die durch quälenden Schmerz ausgelöst wird, umzukehren. Herr Mayer hat begonnen schmerzende Aktivitäten zu vermeiden, sich zurückgezogen und wurde immer inaktiver.
Nun wird eine Alltagstätigkeit bestimmt, welche für Herrn Mayer positiv besetzt ist und angenehme Erinnerungen weckt.
Sein Alltagsziel ist das Reparieren seines Old Timers. Herr Mayer hat immer gerne in der Garage herumgeschraubt, das aber in der letzten Zeit nicht mehr machen können. Nun wird die Tätigkeit analysiert und in Teile zerlegt. Es wird festgelegt, welche Körperfunktionen nötig sind: Bücken, Umdrehen, Handkraft, Fingergeschicklichkeit, Ausdauer, Heben, Drehen, usw.
Eine passende Heimübung wird erarbeitet: Kniebeugen, das Drücken einer Knetmasse, Aufgreifen von gefüllten Flaschen, das Tragen einer Kiste. Pausen werden eingeplant. Definiert wird, wie kräftig, wie lange und wie oft geübt werden muss, um seinen Körper wieder an die Aktivität zu gewöhnen.
Ergotherapie und Progressive Load
Im Optimum darf eine minimale Schmerzexposition stattfinden, sonst wird die Übung modifiziert. Da Schmerzen Angst machen wird zuerst unter therapeutischer Supervision geübt. Herr Mayer erfährt, dass ein bisschen Weh ok ist, sich der Körper dadurch adaptiert. Schritt für Schritt hat sich die Belastungsgrenze nach oben verschoben. Wenn er 20 oder 30 Minuten seine Übungen durchführen kann wird zur Tat geschritten. Das Auto wird in Angriff genommen.
Daraus entsteht ein Erfolgserlebnis, das sich positiv auf die Genesung auswirkt. Der Inaktivitäts- und Schmerzkreislauf ist unterbrochen.
Langsam lernt Herr Mayer, wie er mit seinem Schmerz umgehen kann. Er weiß, dass er ihn noch einige Zeit begleitet, wie ein schwerer Rucksack. Jedoch verliert der Rucksack nach und nach sein Gewicht. Der Schmerz verblasst.
Die Wegbegleiter dahin sind positive Verstärkung, schmerzmodulierende Gespräche, Aufmunterung, Zuversicht, Zuhören, Spaß, Anleiten und Begleiten, Erfolgserlebnisse … das alles sind die Pfeiler der Ergotherapie in der Schmerzbehandlung.