Andy Holzer ist Profi-Bergsteiger und blind. Ein philosophisches und bildhaftes Interview mit dem weitgereisten Osttiroler über Gipfel als letzte Pinselstriche, emotionale Grenzerfahrungen und augenöffnende Botschaften.
Andy Holzer
Profi-Bergsteiger und Vortragender
Blind bergzusteigen und zu klettern – das ist für viele vermutlich nicht vorstellbar. Wie erklären Sie das sehenden Menschen?
Die
Blindheit war für mich nie eine Barriere. Ich habe kein Augenlicht,
aber das bedeutet noch lange nicht, dass ich nicht Ziele erreichen kann,
die für mich erstrebenswert erscheinen. Das habe ich schon als Kind
verstanden und gespürt. Ich habe mich immer daran orientiert, wohin mich
die Sehnsucht treibt – nicht nur was das Klettern betrifft, sondern
ganz generell im Leben. Das vergessen die meisten Menschen leider, weil
sie sich zuerst an ihren Voraussetzungen orientieren.
Sie arbeiten mit dem Slogan „Den Sehenden die Augen öffnen“. Was kann man sich darunter vorstellen?
Seit zehn Jahren lebe ich von meinen weltweiten Vortragstätigkeiten. Davor war ich in einem für Blinde typischen Beruf, als Heilmasseur, tätig. Das hat mir wahnsinnig viel Lebenserfahrung geschenkt. Mit 43 Jahren habe ich gespürt, dass da noch was geht. Das war ein Risiko. Ich habe mir dann überlegt, wie kann ich die Menschen mit einem Satz auf mich neugierig machen? Also: Den Sehenden die Augen öffnen. Das ist eine sehr spannende Ansage, weil ich ja nicht einmal selbständig auf die Bühne gehen kann.
Welche Inhalte möchten Sie bei Ihren Vorträgen weiter- und mitgeben?
Menschen, egal wie nahe sie dir stehen, sind nicht für dein Glück zuständig. Niemand auf diesem Planeten hat deinen Schlüssel. Daraus folgt erstens die dynamische Führung. Das heißt, dass ich meine Führungskraft so führen muss, damit sie mich führen kann. Das funktioniert in einer Firma genauso wie am Mt. Everest. Ich führe meine sehenden Partner, damit sie mich über eine Gletscherspalte oder eine Felswand führen können. Und zweitens die gepflegte Abhängigkeit. Das bedeutet, dass man sich in vollem Bewusstsein auf jemand anderen einlässt. Unabhängigkeit gibt es auf diesem Planeten gar nicht. Denn alles ist ein Ineinandergreifen. Wir müssen uns bewusst machen, dass wir andere brauchen und auch selbst gebraucht werden dürfen.
Was ist das Intensivste, das Sie jemals am Berg erlebt haben?
Da tue ich mir ganz schwer, weil ich schon lange nicht mehr auf Ranglisten aufspringe. Es gibt keine besseren oder schlechteren Erfahrungen, sondern einfach unterschiedliche. Aber natürlich habe ich ein paar Eckpfeiler. Etwa, als ich nach zwei Versuchen tatsächlich am Dach der Welt, dem Mt. Everest angekommen bin und mit im Gepäck hatte, dass mein Vater in diesen Tagen zu Hause verstorben war. Das sind emotionale Grenzen. Der Mt. Everest hat mich das Leben und nicht das Überleben gelehrt. Wir streben alle die Perfektion an, aber das ist eine komplett sinnlose Investition.
Sie haben einmal gesagt: Der Mt. Everest liege nicht in Asien, sondern in jedem von uns. Wie bezwingen Sie Ihren inneren Everest?
Zuerst gilt es, den eigenen inneren Everest zu entdecken. Viele von uns sehen nur den Everest des Nachbarn, doch jeder hat für sich selbst eine ursprüngliche Sehnsucht. Wenn man dieses Ziel gefunden hat, dann sind 80 Prozent der Maut schon bezahlt. Aber die Unorientiertheit, die Ziellosigkeit und das Treiben in den Möglichkeiten des Universums lassen uns oft im Dunkeln tappen. Wenn man den Everest gefunden hat, sollte man ihn auch angehen. Viele Menschen werden nie hinaufsteigen, weil das Risiko zu hoch sein könnte. Aber zu scheitern ist nicht schlimm, es überhaupt nicht zu probieren allerdings schon. Der Everest ist die Grundsehnsucht des Menschen, wofür er überhaupt auf diese Welt gekommen ist. Mein Everest ist es, die Menschen ein bisschen zu reduzieren, zu erden und auf simple Werte zurückzubringen.
Wie nehmen Sie die Situation wahr, wenn Sie einen Gipfel erreichen?
Ich steige auf die Berge nicht nur der Berge willen, sondern weil ich das erleben will, was meine Freunde erleben. Ich war schon früh motiviert, den ganzen Horizont zu überklettern, damit ich weiß, wie er aussieht. Ich habe die Berge abgetastet und sie von verschiedenen Seiten bestiegen, um sie mir dreidimensional vorzustellen. Einen Gipfel zu erreichen ist der letzte Pinselstrich meiner Motivation.
Beim Klettern kommt es ja auch auf die Koordination von Augen und Händen an. Wie gleichen Sie den Augen-Part aus?
Meine Eltern haben mich nie als blinden Menschen erzogen. Ich nehme zwar über meine Augen nichts wahr, aber ich habe das Leben von sehenden Menschen gelernt – auf Augenhöhe sozusagen. Mein Leben ist nicht stockdunkel, sondern voller Bilder, Muster, Strukturen, Leitfäden und Farben. Denn ich habe als Kind gelernt, den Sehkortex zu aktivieren und empfinde deswegen dasselbe wie Sehende. Aber spannend ist ja, dass Kletterweltmeister zum Teil bewusst ohne Augenlicht trainieren, weil man damit sein Körpergespür trainiert und man seine Hände dorthin bewegt, wo es für das Balancesystem des Körpers am besten ist. Sehende greifen nach dem, was sie sehen – auch wenn es physikalisch nicht funktioniert. Denn die Augen verführen und das ist nicht nur beim Klettern so, sondern auch im echten Leben.