Assoz. Prof. Priv.-Doz Dr. Harald Sourij
Erster Sekretär der Österreichischen Diabetes Gesellschaft (ÖDG)
Priv. Doz. Dr. Joakim Huber
Präsident der Österreichischen Adipositas Gesellschaft (ÖAG)
Univ. Prof. Dr. Bernhard Metzler
Sekretär und President elect der Österreichischen Kardiologie Gesellschaft (ÖKG)
Univ.-Prof. Dr. Andreas Sönnichsen
Leiter der Abteilung Allgemeinmedizin der Medizinischen Universtät Wien
Dr. Stefan Keznickl
Richter des Bundesverwaltungsgerichtes, Mitglied der Aktiven Diabetiker Austria (ADA)
Volkskrankheiten betreffen, wie der Name bereits verrät, eine große Zahl an Menschen. Eine Expertenrunde spricht über Stereotypisierungen, Telemedizin und Corona.
Mangelnde Bewegung, schlechte Ernährung, permanenter Stress und die Nebenwirkungen des westlichen Lebensstils – die Ursachen für Volkskrankheiten sind vielschichtig. In Kombination mit genetischen Voraussetzungen und der gesteigerten Lebenserwartung leben in Österreich heute sehr viele Menschen mit Volkskrankheiten wie Diabetes, Herzkrankheiten, COPD, Depressionen oder Adipositas. Univ.-Prof. Dr. Andreas Sönnichsen, Leiter der Abteilung für Allgemein- und Familienmedizin an der Medizinischen Universität Wien, weiß um die Herausforderungen in diesem Zusammenhang: „In der Allgemeinmedizin ist das unser tägliches Brot. Starben Menschen früher vielleicht schon mit 45 Jahren an einer Infektionskrankheit, so erleben wir heute die typischen Volkskrankheiten und ihre Folgen.“ Auch Priv.-Doz. Dr. Joakim Huber, Internist und Präsident der Österreichischen Adipositas Gesellschaft, betont den gesundheitlichen Wandel der letzten Jahrzehnte: „Die Probleme mit Adipositas haben erst in den letzten 40 Jahren begonnen. Das hat mit den Veränderungen unserer Umgebung zu tun, die uns – vereinfacht gesagt – dick machen. Gleichzeitig müssen wir aber aufpassen, dass wir betroffene Menschen nicht stigmatisieren.“
Ende des „Blame and Shame Game“
Vor Stereotypisierungen in Zusammenhang mit „Wohlstandserkrankungen“ warnt auch Univ.-Prof. Dr. Harald Sourij. Der Diabetesexperte ist Vorstandsmitglied der Österreichischen Diabetes Gesellschaft und rät zu einem pragmatischen Zugang sowie zu einem Ende des „Blame and Shame Game“: „Eine Diagnose, wie etwa von Diabetes, bedeutet nicht, Patientinnen und Patienten gleich in ein striktes Korsett zu drängen. Betroffene müssen sicherlich ihr Leben anders organisieren. Aber das Leben sollte sich nicht nach der Therapie richten, sondern die Therapie sollte dem Leben entsprechen.“ Individuelle Betreuung sowie an die Lebensumstände angepasste Therapieziele sehen Ärzte heute als wichtiges Prinzip. Einer, der das von Patientenseite kennt, ist Dr. Stefan Keznickl. Der Richter leidet seit zwei Jahren an Diabetes, der bei einer Blutabnahme zufällig diagnostiziert wurde. Keznickl ist ein „untypischer“ Typ-2-Diabetiker, immerhin ist er schlank und sehr sportlich. „Ich habe lange gebraucht, bis ich mit dieser Diagnose zurechtgekommen bin. Vielleicht auch, weil man ein gewisses stereotypes Bild eines 120 Kilogramm schweren Mannes, der mit dem Auto zum Zigaretteneinkauf fährt, im Kopf hat.“ Den Schock von damals hat Keznickl heute gut verdaut. Er hat seine Ernährung stark umgestellt und engagiert sich bei der Selbsthilfegruppe Aktive Diabetiker Austria. Sich zu informieren und sich auszutauschen, hat Keznickl geholfen. „Für kleine und große Fragen braucht es aber unbedingt das Gespräch mit Ärzten und Experten, die mich beraten und emotional da abholen, wo ich bin“, sagt Keznickl.
Ein Blick auf die Populationsebene
Die individuelle medizinische Therapie von Erkrankungen wie Diabetes ist das eine. In der Behandlung von Volkskrankheiten gehe es aber auch darum, den Blickwinkel auf die Populationsebene zu richten, sagt Adipositasexperte Huber. „Als Ärzte können wir im Eins-zu-eins-Setting etwas bewirken. Wollen wir gegen Volkskrankheiten aber auf Populationsebene vorgehen, muss sich auch auf politischer, ökonomischer und industrieller Ebene etwas ändern.“ Denn Volkskrankheiten hängen ganz wesentlich von den Lebensverhältnissen und Lebensumständen einer Gesellschaft ab. Auch Univ.-Prof. Dr. Bernhard Metzler, Kardiologe an der Medizinischen Universität Innsbruck und Vorstandsmitglied der Österreichischen Kardiologischen Gesellschaft, sieht in seinem Fachgebiet den Niederschlag der Entwicklungen der vergangenen Jahrzehnte: „Herzerkrankungen entstehen häufig als Folgen von Risikofaktoren beziehungsweise von anderen Erkrankungen, wie etwa Diabetes, Bluthochdruck oder Übergewicht.“ Die Entwicklungen der letzten drei Jahrzehnte sieht Metzler zweigeteilt. Denn gleichzeitig sehe man auch die enormen Fortschritte in der Behandlung und in der Intervention von Herzerkrankungen, so Metzler.
Balanceakt: digital und zwischenmenschlich
Modernste Forschung und Medizin ermöglichen uns also heute in vielen Bereichen Therapien, die vor 20 oder 30 Jahren noch nicht durchführbar gewesen wären. Ebenso werden neue, digitale Formen der Interaktion zwischen Ärzt(inn)en und Patient(inn)en, oftmals unter dem Stichwort Telemedizin zusammengefasst, heute immer öfter eingesetzt – nicht zuletzt auch aufgrund der Entwicklungen im Zusammenhang mit den gesundheitlichen und sozialen Einschränkungen rund um das Coronavirus. Die Telemedizin, also die informationstechnologische Unterstützung von Leistungen des Gesundheitswesens, hat durch die COVID-19-Krise an Fahrt aufgenommen. „Telemedizin hat dort einen tollen Platz, wo wir zum Beispiel Infektionsketten verhindern oder durchbrechen wollen“, ist Public-Health-Experte Sönnichsen überzeugt. „Menschen mit Infektionskrankheiten müssen nicht in die Praxis kommen, wo sie dann im Warteraum neben Menschen mit chronischen Erkrankungen sitzen. Auch Routinemaßnahmen können gut telemedizinisch gelöst werden. Aber überall dort, wo es um eine Verhaltensänderung geht, brauchen wir unbedingt den persönlichen Kontakt. Denn Konversation ist viel mehr als nur Sprache. Es geht auch um Zwischenmenschliches“, erläutert Sönnichsen.
Telemedizin-Katalysator Corona
In der Kardiologie ist Telemedizin vor allem in der Behandlung von Herzinsuffizienz von Bedeutung. Die telekardiologische Überwachung, etwa von Herzschrittmachern, biete gerade auch bei älteren und nicht so mobilen Patient(inn)en einen guten Service, weiß Kardiologe Metzler. Auch in der Diabetologie können telemedizinische Tools Ärztinnen und Ärzte in ihrer Arbeit unterstützen. Ersetzen wird die Telemedizin Ärzte aber nicht. „Für manche Gruppen ist Telemedizin sehr sinnvoll und hat auch durch Corona sicherlich einen gewissen Drive erhalten. Aber ich glaube nicht, dass es das Heilmittel für alles ist“, bemerkt Diabetologe Sourij. Ähnlich sieht das auch Adipositasexperte Huber: „Telemedizin ist dann sinnvoll, wenn es um kurze Wege geht. In der medizinischen Beratung ist es aber auch ganz wichtig, eine persönliche Beziehung aufzubauen. Die Therapieadhärenz hat mit regelmäßigem Kontakt zu tun – gerade wenn es um die Lebensstiländerung geht. Kurze telemedizinische Beratungen und Verlaufskontrollen können aber sowohl für Patienten als auch für Ärzte erfolgversprechend sein. Wir können beraten und begleiten, umsetzen aber müssen es die Patientinnen und Patienten selbst.“
Volkskrankheiten im Lockdown
Während der ersten Wochen und Monate des Corona-Lockdowns im Frühjahr 2020 hatten viele Patient(inn)en nur wenig bis gar keinen Kontakt zu ihren Ärzt(inn)en. In der Kardiologie machte sich dieser „Nicht-Kontakt“ besonders akut bemerkbar, berichtet Metzler. „In der Lockdown-Phase sind bei uns deutlich weniger Patientinnen und Patienten mit Herzinfarkt in die Klinik gekommen. Zunächst stand die Frage im Raum, ob Menschen einfach weniger Herzinfarkte hätten oder einfach nicht in die Klinik gekommen sind. Wir haben das analysiert, international publiziert und konnten zeigen, dass die sogenannten Kollateralschäden durch nicht behandelte Herzinfarkte nicht klein sind. Wir haben rund 40 Prozent weniger Herzinfarkte behandelt. Diese Beobachtung ist im Übrigen weltweit von Amerika bis nach China bestätigt worden.“ Aber nicht nur über mögliche gefährliche Folgen von keiner oder zu später Behandlung im Zuge der Corona-Krise machten und machen sich viele Ärzte Gedanken. Volkskrankheiten wie Diabetes oder auch Übergewicht scheinen sich zumindest nach aktueller Datenlage tendenziell negativ auf den Schweregrad einer Corona-Infektion auszuwirken. Auch die Frage, wer denn nun zu (Hoch-)Risikogruppen zähle, bereitete in den letzten Monaten Kopfzerbrechen. Der Diabetologe Sourij hat dazu zusammen mit der Österreichischen Diabetes Gesellschaft ein eigenes Register angelegt. Die Daten dazu sind aktuell in Auswertung. Weitere Analysen und Forschungen dazu werden folgen. Denn klar ist, dass der Umgang mit COVID-19 das Gesundheitssystem auch in den nächsten Monaten fordern wird.
Gesundheitsziel: Prävention
Das Thema Volkskrankheit ist nicht nur medizinischer Natur, sondern impliziert auch soziale, ökonomische und bildungspolitische Fragen. Davon ist auch Allgemeinmediziner Sönnichsen überzeugt: „Wir haben ein sehr gutes Gesundheitssystem, aber auch hier können wir noch vieles verbessern. Es gibt aber auch durchaus Herausforderungen, was die Therapieadhärenz von Patientinnen und Patienten betrifft. Hier kommt die Kunst des Arztseins zum Tragen, da wir uns auf sehr unterschiedliche Patienten einstellen müssen, um wirklich allen gerecht zu werden.“ Auch Diabetespatient Keznickl wünscht sich viel Information und eine gute Beratung: „Ich als Patient bin der Manager und habe Beraterinnen und Berater, die mich unterstützen. Es geht nicht um die Disziplin, sondern um Motivation! Schließlich hangelt man sich als Patient mit Erfolgserlebnissen vor.“ Dass diese Beratung im besten Fall aus einem multiprofessionellen Team besteht, unterstreicht Diabetologe Sourij: „Ein ganzheitliches Konzept ist sehr wichtig. Es ist wesentlich, den multiprofessionellen Ansatz zu bieten, den unsere Patientinnen und Patienten brauchen.“ Internist Huber verleiht diesem Prinzip Nachdruck: „Es gibt keine One-Fits-All-Lösung. Jeder Mensch ist anders. Eine Lebensstiländerung, wie sie bei Volkskrankheiten notwendig werden kann, muss langfristig gelingen – wenn es die Patienten selbst möchten. Viel wichtiger als die Behandlung von Volkskrankheiten wäre aber, sie überhaupt zu verhindern.“ Die Forderung nach mehr Präventionsprogrammen kommt von vielen Seiten – auch im Rahmen dieser Expertenrunde. Und der Wunsch nach einem System, das nicht nur Menschen behandelt, die bereits krank sind, sondern auch jene unterstützt, die gesund bleiben wollen.