Hypersalivation, Sialorrhö, Spinale Muskelatrophie oder auch Myopie und Transition – kaum mit seltenen und chronischen Erkrankungen in Berührung gekommen, ist man auch gleich mit Fachbegriffen der Extraklasse konfrontiert.
Caroline Culen
Klinische und Gesundheitspsychologin
Geschäftsführerin Österreichische Liga für Kinder- und Jugendgesundheit
Foto: Kinderliga/Jana Madzigon
Die Kinder, die von all den genannten Krankheiten betroffen sind, denken über ihre fremdartigen Bezeichnungen kaum nach. Viel wichtiger für sie sind – neben den lästigen Herausforderungen, die eine Erkrankung mit sich bringt – die alltäglichen Dinge: Es gilt Hausaufgaben zu erledigen, Geburtstage zu feiern, Videogames oder Fußball zu spielen, mit Freund:innen zu chatten und vieles mehr…
Sie wünschen sich wie alle anderen Kinder beständige und liebevolle Beziehungen. Sie wollen sich als wertvolles Familienmitglied fühlen. Struktur und Sicherheit ist ihnen wichtig. Und das Streben danach, neue Erfahrungen zu machen, trägt wie bei allen anderen jungen Menschen zum Gefühl der Eigenverantwortung, Autonomie und Unabhängigkeit bei. Sie brauchen Freundinnen und Freunde und wollen doch einfach nur „normal“ sein.
Hinzu kommt, dass diese Kinder mit den schwer auszusprechenden Diagnosen nach außen trotzdem „normal“ wirken, weil eine seltene Erkrankung manchmal kaum sichtbar ist für andere. Das heißt, nicht immer weiß die Umgebung Bescheid.
In Österreich sind etwa 197.000 Kinder im Schulalter von einer chronischen Erkrankung betroffen. Dazu gehören allgemein bekannte Krankheiten, wie Asthma, Diabetes oder Epilepsie, und weniger bekannte, wie das juvenile (kindliche) Rheuma, die Zystische Fibrose und genetische Syndrome. Diese Erkrankungen können angeboren sein oder im Laufe der Zeit auftreten.
Darunter fallen auch die sogenannten „Seltenen Erkrankungen“. Als „selten“ wird eine Krankheit gemäß EU-Definition dann bezeichnet, wenn sie bei bis zu fünf von 10.000 Einwohner:innen auftritt. Über 30.000 Krankheiten kennt die Medizin bislang, rund 8.000 davon fallen per Definition unter den Begriff „Seltene Erkrankung“. In Österreich sind zirka 400.000 Menschen von einer seltenen Erkrankung betroffen – mindestens die Hälfte davon sind Kinder, von Neugeborenen bis zu jungen Erwachsenen.
Das Leben der von diesen komplizierten Termini betroffenen Kinder und Jugendlichen kann auch in leicht verständlicher Sprache beschrieben werden: häufige Spitalbesuche, spezielle Ernährung, regelmäßige Medikamenteneinnahme, tägliche Physiotherapie und oft auch gekonnter Umgang mit technischen Hilfsmitteln wie Insulinpumpen, Rollstühle, Sonden aller Art oder Beatmungsgeräte.
Die Diagnose einer seltenen Erkrankung bringt neben den körperlichen auch soziale und emotionale Herausforderungen mit sich – für die Kinder selbst, aber auch für die gesamte Familie: Sorgen und Ängste sind ständige Begleiterinnen. Finanzielle Hürden, die Vereinbarkeit von Beruf und Familie sowie unzureichende Inklusion bleiben alltägliche Probleme. Es ist nach wie vor so, dass Familien besonders mit letzterem Punkt zu kämpfen haben. Soziale Akzeptanz und Teilhabe kosten viele Bemühungen; und dennoch sind Lebensfreude und Lebenswille bei vielen betroffenen Kindern ungebrochen.
Hierbei stellt sich die Frage, wie es gelingen kann, mit einer seltenen Erkrankung möglichst gut zu leben.
Ein erfülltes Leben hängt weniger von einer Diagnose ab, als davon, wie die oder der Einzelne aber auch wir alle als Gesellschaft mit einer Erkrankung umgehen.
Auf der individuellen Ebene hängt viel von den jeweiligen Belastungen ab, die bei jedem Kind und in jeder Familie zu einem ganz spezifisch gemixten Situations-Cocktail führen.
Die Krankheitsbewältigung, auch Krankheitsverarbeitung oder „Coping“, zeigt sich in dem Bemühen, Belastungen durch die Krankheit über die Gefühls- und Verstandesebene zu verarbeiten und/oder durch zielgerichtetes Handeln aufzufangen, auszugleichen und zu meistern. Die Psychologie spricht hierbei von unterschiedlichen Coping-Strategien: vom verleugnenden, sinnsuchenden oder auch aktiven Bewältigungsstil, aber auch von der Bewältigung durch soziale Unterstützung und Einbindung.
Gleichzeitig darf man sich die Bewältigung nicht als einmaligen Event vorstellen, sondern als andauernden Prozess. Sie läuft zeitlich einmal schneller und ein anderes Mal sehr langsam ab und beginnt meist mit Verleugnung („Ich glaub‘ das nicht.“), macht weiter mit Aggression („Schuld daran ist nur…“), Depression und Trauer („Es hat alles keinen Sinn mehr…“), geht über ins Verhandeln („Vielleicht gibt es ja eine Chance…“) und endet im besten Fall bei der Akzeptanz („Wie können wir das Beste daraus machen?“). Manchmal kann es diesbezüglich in Familien zu Konflikten kommen, weil jedes Familienmitglied sein eigenes Tempo bei der Diagnosebewältigung an den Tag legt.
Zu bedenken ist außerdem, dass betroffene Kinder oft erst in der Pubertät mit ihrer Krankheitsbewältigung beginnen. Die verständnisvolle Begleitung durch stabile Bezugspersonen (Familie, Freundinnen/Freunde, Expert:innen) kann dabei Wunder wirken.
Alle Kinder wünschen sich Akzeptanz, Anteilnahme und Rücksichtnahme bei gleichzeitigem „Für-Voll-Genommen-Werden“. Alle Eltern wünschen sich, dass ihre Kinder eine möglichst unbeschwerte Kindheit und Jugend erleben.
Es braucht in jedem Fall das allgemeine Verständnis in unserer Gesellschaft, dass Kinder und Jugendliche von einer Vielzahl an Erkrankungen betroffen sein und dennoch am Alltag teilnehmen können.
Weitere Infos
Hinweise zu vielen verschiedenen Unterstützungsmöglichkeiten wie Patient:innenvertretungen und Selbsthilfegruppen finden sich in dieser Ausgabe der Kindergesundheit, aber auch auf