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Sehen

Lichtlos leben

© Foto: Peter Lechner

Eine Vielzahl an Erblindungen wären zumindest auf dem afrikanischen Kontinent nicht notwendig, sagt die äthiopische Rechtsanwältin und Menschenrechtsaktivistin Yetnebersh Nigussie und steht trotz eigener Erblindung aktiv dafür ein.

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Yetnebersh Nigussie

Anwältin, Behindertenrechtsaktivistin und Inklusionsexpertin bei Licht für die Welt © Foto: Gregor Kuntscher

Sie erblindeten im Alter von fünf Jahren durch eine Meningitis-Infektion. Wie sehr erinnern Sie sich an die Jahre des Sehens zuvor?

Ich kann mich noch immer an mein grünes Dorf am Land und die Zahl der Schafe, Ziegen und Hühner erinnern, die ich gehütet habe. Solche Erinnerungen sind zum Glück im Kopf gespeichert, nicht in den Augen. Ich habe auch noch von damals eine gewisse Vorstellung von Farben.

Viele Krankheiten können zu einer Erblindung führen, müssen aber nicht. An welchen Präventivmaßnamen fehlt es?

Die meisten Ursachen für Blindheit in Afrika einschließlich Äthiopien sind meistens vermeidbar. Erstens ist es absolut notwendig, Menschen gut auszubilden und aufzuklären. Aber das allein reicht nicht aus. Wir müssen sicherstellen, dass die erforderlichen medizinischen Einrichtungen und die entsprechenden medizinischen Fachkräfte vorhanden sind. Es ist wirklich traurig, wenn ein Mädchen blind wird und dadurch große Schwierigkeiten im Leben hat, obwohl das so leicht vermeidbar wäre.

Auch die Armut ist ein wesentlicher Faktor. Wenn Menschen arm sind, können sie es sich nicht leisten, ihre Kinder in die Schule zu schicken. Sie haben auch nicht die nötige Bildung, um Entscheidungen über die Gesundheit in ihrer Familie zu treffen. Aber auch wenn sie die richtigen Informationen haben, braucht es die nötigen medizinischen Einrichtungen Beides war in meinem Leben leider nicht der Fall.

Meine Mutter brachte mich erst drei Jahre nach meiner Erblindung zu einem Arzt, der 600 Kilometer von meinem Dorf entfernt war. Sie hatte keine Bildung und als sie verheiratet wurde, war sie gerade einmal elf Jahre alt. Also Bildung, medizinische Einrichtungen und ausgebildete Fachkräfte sind die Schlüssel zu mehr Augengesundheit.

Mit dem Verlust des Sehvermögens verlieren viele Menschen auch Hoffnung und Mut. Wie sind Sie diesem Teufelskreis entkommen?

Meine Großmutter und meine Mutter trafen die gute Entscheidung, mich mit acht Jahren zur Schule zu schicken. Mir wurde gesagt, dass ich wertvoll bin und ich erkannte, dass meine Zukunft in meiner eigenen Hand liegt. In der Schule sagte man mir auch, dass ich schlau, schön und eine Investition wert bin. Leider haben viele blinde Menschen nicht das Glück, das jemand das zu ihnen sagt. Und genau dann beginnen viele blinde Menschen aufzugeben und beschränken sich nur mehr auf das Träumen.

Sie sind das Vorzeigebeispiel dafür, dass Sehen keine Voraussetzung für einen erfolgreichen Bildungsweg ist. Was sind die wichtigsten Faktoren, die Ihnen dabei geholfen haben?

Wie meine Mutter wäre auch ich schon als Kind verheiratet worden, wäre ich nicht blind gewesen. Durch die Wahl, mich medizinisch behandeln zu lassen und den höheren Bildungsweg einzuschlagen, entkam ich diesem Schicksal. Ich wollte auch immer die Beste sein. Meine Behinderung sah ich dann nicht mehr als Herausforderung, sondern mehr als eine Gelegenheit, die mich vor der frühen Ehe rettete.

Der Schlüssel im Leben ist: Akzeptiere dich, so wie du bist, nicht so, wie andere dich haben wollen. Meine Ausbildung hat dann meine inneren Augen geöffnet – um positiv zu denken und auch so zu handeln. Ich gebe niemandem die Schuld für die vielen Barrieren, die ich erfahren habe. Ich sehe mich eher als jemand, der speziell ausgewählt wurde, um Lösungen zu finden, die Barrieren zu überwinden. Probleme zu lösen, ist auch sehr wichtig, um sich als Führungskraft zu entwickeln.

Augenbehandlung im Südsudan. © Foto: Luca Catalano Gonzaga

Technik und Innovation – welche Rolle spielt die Forschung in Ihrem Leben als Betroffene als auch in Ihrer Arbeit für „Licht für die Welt“?

Forschung ist ein kritischer Weg, um Beweise dafür zu entwickeln, dass Menschen verstehen, warum und wie Sie zu einer bestimmten Sache stehen. Als eine Anwältin, die ich immer sein werde, haben Forschungsergebnisse meine Botschaften immer verstärkt, weil ich konkrete und wissenschaftliche Beweise hatte – im Gegensatz zu reinen Annahmen und Überzeugungen.

Ein Beispiel: Wir behaupteten, dass die Investitionen in die inklusive Bildung noch sehr gering sind. Davon war jedoch niemand überzeugt. Erst als wir mit Licht für die Welt 2016 eine Studie mit dem Titel „Costing Equity“ zur Finanzierung der inklusiven Bildung vorlegen, konnten wir beweisen, dass die Geldgeber zu wenige Mittel für inklusive Bildung bereitstellten.

Menschen mit Grauem Star in Südsudan warten auf ihre Operation, die Licht für die Welt finanziert. © Foto: Franko Petri

Manche Regierungen, wie etwa in den Ländern südlich der Sahara, geben nur 0,2 Prozent ihres gesamten Bildungsbudgets für inklusives Lernen aus. In einer Welt, in der mehr als 32 Millionen Kinder mit Behinderungen von der Schule ausgeschlossen sind, ist die Investition eines so geringen Betrags ein deutliches Zeichen dafür, dass unsere politischen Verpflichtungen nicht in die Tat umgesetzt werden.

Nun haben sich als Folge dieser Studie mehr als 200 Organisationen unserer Forderung nach mehr Investitionen für inklusive Bildung angeschlossen, darunter auch Regierungen und die Globale Partnerschaft für Bildung (GPE).

Hören, Fühlen, Schmecken und Riechen – lassen sich diese Sinne zusätzlich trainieren?

Ja, das glaube ich sehr wohl. Ich habe mich bewusst trainiert, besser zu hören, damit ich Menschen an ihrer Stimme erkenne, weil ich ihr Gesicht nicht sehen kann. Ich unterscheide Dinge wie Salz oder Zucker, indem ich es teste. Wenn einer der Sinne nicht funktioniert, schaut man eben, dass man die anderen Sinne besser nutzt, um sich in der Umgebung zu orientieren. Manche Leute glauben, dass blinde Menschen einen sechsten Sinn haben. Das ist ziemlich weit von der Realität entfernt.

Sie haben ab heute jeden Tag einen Wunsch frei. Welcher ist Ihr erster?

Mein erster Wunsch ist eine Welt ohne Barrieren für Menschen mit Behinderungen. Nur so können Menschen mit Behinderungen ihr Bestes geben, zur Schule gehen und eine gut bezahlte Arbeit finden. Der Kampf gegen Barrieren ist der Kampf, in welchen ich jeden Tag viel Energie hineinstecke.

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